Mittwoch, November 12, 2008

Von Bodensatz und Hochstaplern

Hier soll es um einen Ausdrucksfehler gehen, der mich in letzter Zeit immer öfter aufregt. Vor allem, weil er auch von einer ganzen Menge Leuten gemacht wird, die es eigentlich besser wissen sollten. Was ich meine? Die allseits verbreitete Unart, in biologischen Texten von "höheren" und "niederen" Organismen/Eukaryoten/Tieren/Pflanzen/etc. zu sprechen (entsprechend im Englischen "higher" und "lower"). Denn auch die ständige Verwendung dieser Begriffe ändert nichts daran, dass es diese zwei Gruppierungen schlicht nicht gibt, und dass sie schlimmer noch ein stark verzerrtes Bild der tatsächliches Verwandtschaft von Organismen zeichnen.

Ein Beispiel, wie ich es auch in Fachartikeln immer wieder lese, geht in etwa so: "Wir haben Gen/Protein X in der Maus untersucht und es hat Funktion Y. Da wir es über Sequenzvergleiche auch im Menschen, aber nicht in der Fruchtfliege Drosophila melanogaster finden, ist diese beschriebene Funktion den höheren Tieren vorbehalten, niedere Tiere müssen ohne Auskommen."
Hier wird willkürlich eine Grenze in den Tieren gezogen, die üblicherweise bei den Wirbeltieren liegt. Gehört der Organismus zur Gruppe der Wirbeltiere, ist es ein "höheres" Tier, wenn nicht, dann ist es ein "niederes" Tier. In diesem Fall ist die Unterscheidung zumindest noch soweit vertretbar, dass es innerhalb der Tiere wirklich ein Taxon "Wirbeltiere" (Vertebrata) gibt - aber wieso grenzen die Autoren dann die zwei Gruppen nicht mit dem etablierten Fachbegriff ab? Denn ein Problem mit der Verwendung von "höheren" und "niederen" Organismen wird schon in diesem einfachen Beispiel sichtbar: Die "höheren" Tiere stehen in einer angenommenen Rangfolge über den "niederen" Tieren. Dies geht auf eine veraltete und lange widerlegte Sicht der Verhältnisse der Organismen zurück, die beispielsweise auch Linné noch teilte: die scala naturae, die eine hierarchische Rangfolge aller Objekte im Universum postuliert. Demnach stehen ganz unten unbelebte Dinge wie Steine, darauf folgen Pflanzen, die ja schon leben. Wichtiger als Pflanzen sind Tiere, da sie sich auch bewegen können. Der Mensch bildet die Krone der Schöpfung, und ganz oben sitzt Gott. Demnach kann man verstehen, warum die Wirbeltiere höher als Invertebraten stehen sollen - der Mensch ist auch ein Wirbeltier. Das Problem daran: Wir wissen aus verschiedenen Quellen, dass alle heute lebenden Organismen auf einen einzigen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass alle dieser heute lebenden Organismen gleich "alt" sind und die Evolution gleich lange auf ihre Vorfahren gewirkt hat. Was ganz sicher nicht stimmt ist, dass die heute lebenden Organismen verschiedene Stufen auf einer Leiter sind, die zum Menschen hinführt. Auch das Argument der unterschiedlichen Komplexität der Organismen zieht nicht, weil alle Organismen prinzipiell bestangepasst für ihren aktuellen Lebensraum sind. Wenn dieser Lebensraum eine einzellige Lebensweise bevorzugt, dann sagt das verständlicherweise nichts über einen möglichen Stand es darin lebenden Organismus in der Rangfolge des Lebens aus.

Die Sichtweise der scala naturae für eine Unterscheidung in "höhere" und "niedere" Tiere ist also nicht haltbar. Warum es mit der inflationären Verwendung dieser Begriffe aber noch ein anderes Problem gibt, möchte ich auch kurz anreißen. Wenn wir den Blick nämlich ein wenig weiter als nur die Tiere schweifen lassen, wird offensichtlich, dass viele Autoren über die Verwandtschaftsverhältnisse der Organismengruppen hier auf der Erde nicht viel Ahnung haben, oder dass sie ihnen zumindest zum Zweck eines einfachen Arguments egal sind. Hin und wieder kommt es nämlich vor, dass in Fachartikeln auch Organismen außerhalb der Tiere in den Vergleich einbezogen werden. Meistens handelt es sich dabei um den klassischen eukaryotischen Modellorganismus, die einzellige Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae. Noch seltener werden auch Pflanzen mit untersucht. Wenn das passiert, dann ist der Grimassenfaktor bei der Diskussion von "höheren" und "niederen" Eukaryoten aber besonders hoch:
Sehr oft findet man im Vergleich von mehrzelligen Tieren und mehrzelligen Pflanzen genetische Gemeinsamkeiten, die in vielen einzelligen Eukaryoten, egal ob Tier, Pilz oder Pflanze, nicht zu finden sind. Darum sprechen diese Leute dann von "höheren" Eukaryoten und meinen Organismen wie den Menschen, die Maus, Reis, Mais und Arabidopsis, und von "niederen" Eukaryoten und meinen dann die einzellige Alge Chlamydomonas rheinhardtii, die Bäckerhefe, eine der Amöben mit durchsequenziertem Genom, etc. Hier tritt nun ein großes Problem auf, das in dem Beispiel oben mit der Unterscheidung von zwei großen Tiergruppen (Vertebraten - Invertebraten) noch nicht vorhanden war. Es werden Verwandtschaftsgruppen zwischen Organismen gebildet, die keineswegs so direkt miteinander verwandt sind.
Beispiel Maus und Arabidopsis. Um den gemeinsamen Vorfahren von der Maus und Arabidopsis zu finden, muss ich von beiden Organismen aus immer die nächstverwandten Arten zu Gruppen zusammenfassen, bis ich schließlich eine Organismenmenge habe, die sowohl Maus, als auch Arabidopsis beinhaltet. Dabei lande ich von der Maus aus (in großen Sprüngen) über Nagetiere, Wirbeltiere, Bilateria, Tiere (Metazoa), Tiere/Pilze bei einem ursprünglichen Eukaryoten, der mit sehr großer Wahrscheinlichkeit einzellig war. Von Arabidopsis aus kommt man ebenfalls zu diesem ursprünglichen Organismus. Auf dem dorthin begegne ich aber jeder Menge "niederer" Eukaryoten! Wie gesagt, Wirbeltiere und Samenpflanzen sind nicht direkt miteinander verwandt...

Ich denke, das wird auch aus dieser Abbildung hier sehr deutlich. Die "höheren" Eukaryoten sollen jeweils ein Teil (!) der beiden rot eingekreisten Taxa sein, der Rest darf sich "niederer" Eukaryot schimpfen.
(aus Keeling PJ et al. 2005, Trends in Ecology & Evolution)
Also, um zusammenzufassen: Die Unterscheidung von "höheren" und "niederen" Organismen macht aus vielen Gründen keinen Sinn, sie ist sogar irreführend. Ich kann verstehen, dass ein Autor gerne seine Ergebnisse übersichtlich vergleichen möchte. Aber wieso werden dann nicht Bezeichnungen verwendet, die nicht so problematisch sind? Dazu muss man sich fragen: Was unterscheidet Samenpflanzen und Wirbeltiere von den meisten anderen Eukaryoten? Sie sind mehrzellige Organismen, während praktisch alle Gruppen in der Abbildung oben ohne roten Kreis Einzeller sind. Dieser Unterschied hat verständlicherweise einen großen Einfluss auf die Lebensweise des Organismus - es wundert also nicht, dass die "höheren" Eukaryoten zu ähnlichen Problemen - der mehrzelligen Lebensweise - ähnliche Lösungen gefunden haben. Um unser Problem zu lösen reicht meiner Meinung nach eben, wenn man jedes "höhere" und "niedere" durch einzellige und mehrzellige ersetzen würde.

Und es ist mittlerweile dringend nötig, nicht mehr von "höheren" und "niederen" Organismen zu sprechen. Wenn Studenten Vorträge halten oder Texte verfassen, verwenden sie diese Begriffe natürlich gern, weil sie so griffig sind. Als Betreuer darf man dann immer darauf hinweisen, dass diese Begriffe nicht korrekt sind. Was in großen, ungläubigen Augen seitens der Studenten resultiert, schließlich stand das ja so in zig Papern, die sie gelesen haben...Letzten Endes erziehen wir uns durch die falsche Verwendung dieser beiden Worte also eine Generation von Wissenschaftlern, die sie schon aus dem Studium kennen und darum noch unkritischer verwenden werden. Dem tatsächlichen Verständnis beispielsweise von Proteinfunktionen zwischen verschiedenen Organismen tut das aber sicher keinen Gefallen!

6 Kommentare:

derele hat gesagt…

Toller Post! Da bin ich froh, dass mir sowas bei "evolutionsbiologischen" Papern erspart bleibt.
Hast du ein beispiel aus einem journal mit peer-review?

Eine kleine Klugscheisserei noch, du schreibst:
"weil alle Organismen prinzipiell bestangepasst für ihren aktuellen Lebensraum sind."
"Bestangepasst" soweit es ihre Phylogeny erlaubt und die Konkurrenz erfordert waer vielleicht besser...
Oder wie es E.Mayr geschrieben hat: "Leibnitz had not claimed that this is the best possible world, but only that it is the best of the possible worlds. Curiously one can place an equivalent limitation on selection."

Argent23 hat gesagt…

Ich seh das nicht als Klugscheisserei, du hast damit ja schließlich recht, und der Unterschied ist wichtig. Eigentlich war das von mir auch so gemeint, nur hab ich nicht deutlich genug gesagt.

Beispiele könnte ich dir zuhauf liefern. Schwerer wäre es gewesen, ein Beispiel zu finden wos richtig gemacht wurde ;-)

Aber ich hab was aus der aktuellen Literatur. Vor ein paar Wochen kamen in einer Ausgabe von Genes & Development zwei Paper über das neu entdeckte RMI2 raus. Singh et al. schreiben ganz lapidar:

We did not find any RMI2 ortholog in lower organisms like Caenorhabiditis elegans or yeast based on protein sequence
alignment analysis.


Dumm nur, dass ihre Kollegen in der gleichen Ausgabe ein Homolog in Arabidopsis gefunden haben. Lower organisms wären nach denen also alle Nicht-Wirbeltiere. Aber die Kollegen Xu et al. machen es nicht gerade besser. Denn obwohl sie wie gesagt auch in Arabidopsis ein Homolog finden, schreiben sie:

While RMI1 is present in the majority of eukaryotes, RMI2 is only present in vertebrates and plants, but absent in invertebrates and yeast (Fig. 2B), hinting that RMI2 is needed in higher eukaryotes that have more complex genomes.

Die Idee mit den komplexeren Genomen muss gar nicht falsch sein, aber da kann man doch trotzdem auf "higher" und "lower" verzichten...


Singh TR et al., 2008, Genes Dev 22:2856-2868.
Xu D, 2008, Genes Dev 22:2843-2855.

derele hat gesagt…

Hmm,

basiert die Idee mit dem komplexeren Genom auf Adaptationismus?
Dann muesste der letzte gemeinsame Vorfahre von Tieren und Pflanzen schon ein komplexes Genom gehabt haben und das Gen waere zusammen mit dieser Komplexitaet in eingen Linien wieder verloren gegangen...
Oder das Gen haette im letzten gemeinsamen Vorfahren eine "andere Aufgabe" gehabt, diese "andere Aufgabe" waere dann aber parallel in einigen Linien obsolet geworden und in zwei anderen (der Vertebraten und whatever-Pflanzen-Linie) haette es parallel diese "Komplexitaets-Aufgabe" erworben...

Und:
Mayr plus Leibnitz wegen eines etwas ungenauen Halbsatzes zu zitieren koennte man schon als Klugscheisserei werten ;-)

Argent23 hat gesagt…

Wenn wir das wüssten wären wir schon einen großen Schritt weiter. Zumindest in der DNA-Reparatur, in der sehr viele Wege und Proteine stark konserviert sind, finden wir überraschend oft Übereinstimmungen zwischen Tieren und Pflanzen. Ich halte es für die einfachere Erklärung, dass in Organismen mit weniger komplexen Genomen viele überflüssige Proteine verloren gingen, als dass in Tieren und Pflanzen unabhängig voneinander in so vielen Wegen vergleichbare Proteine entstanden, die teils auch Sequenzhomologien aufweisen.

Beispiel Einleitung der homologen Rekombination: Das zentrale Protein hier heißt in Bakterien RecA. In Tieren und Pflanzen gibt es etwa 5-6 beschriebene Paraloge, die alle einen homologen Partner in der anderen Gruppe haben. Fehlanzeige in den Hefen, da sind es nur 2.
Ähnlich verhält es sich auch in der Mismatch-Reparatur, der Nukleotid-Exzisionsreparatur, etc.

Ich kann das natürlich nicht belegen, halte diese Sicht aber für die sinnvollere. Das würde aber - und da hast du vollkommen Recht - bedeuten, dass der letzte gemeinsame Vorfahre von Tieren und Pflanzen ein recht komplex aufgebautes Genom besaß. Andererseits muss dieser Organismus aber relativ kurz nach der Entstehung der Eukaryoten selbst gelebt haben. Gefährliche Idee!

derele hat gesagt…

Vor einigen Wochen war ein Artikel (plus ein news artikel) in Nature (http://www.nature.com/nature/journal/v455/n7217/index.html), in dem miRNAs und piRNAs in basalen Metazoen untersucht wurden. Diese werden auch mit Komplexitaet in Verbindung gebracht und es gibt sie bei Pflanzen und Tieren (je komplexer desto mehr, anscheinend), bei Hefe aber nicht...
Wild!

Argent23 hat gesagt…

oh ja, das Paper liegt auch schon auf meinen Lesestapel!