Freitag, Februar 20, 2009

Epigenetik ≠ Lamarckismus

Ein Artikel auf Heise online mit dem herausfordenden Titel "Nager vererben erworbene Fähigkeiten" ist auf den in letzter Zeit in den Medien so beliebten "Lamarck hatte doch Recht!"-Zug aufgesprungen.

Es geht in dem Artikel um aktuelle Forschungsergebnisse aus der Neurobiologie von Mäusen. Kurz zusammengefasst wurde eine Mäuselinie, die aufgrund einer Mutation Schwierigkeiten mit Erinnerungen hat, auf Gedächtnisleistungen untersucht. Die Forscher stellten dabei fest, dass junge Mäuse dieser Linie, wenn sie in einer Umwelt groß gezogen wurden, die das Hirn fordert - Spielzeuge, soziale Interaktionen, Bewegungsfreiheit - besser in Gedächtnistests abschnitten. Soweit so altbekannt. Überraschend kam nun für die Forscher, dass auch die Nachkommen dieser besonders geförderten Mäuse bessere Erinnerungen hatten, auch wenn sie selbst nicht in einer stimulierenden Umwelt aufwuchsen.


Der Autor des Heise-Artikels sieht darin die verspätete Rache von Lamarck an Darwin. Wieso ist das aber falsch, und wie sollten die Ergebnisse eher interpretiert werden?

Jean-Baptiste de Lamarck (1744 - 1829) war ein französischer Naturforscher mit einem recht interessanten Leben. Ohne ein abgeschlossenes Studium verfasste er das damalige Standardwerk über die Flora Frankreichs, Flore françoise, und wurde daraufhin Mitglied der Pariser Akademie der Wissenschaften und Mitarbeiter des Pariser Botanischen Gartens. Die Stelle am botanischen Garten war aber sehr schlecht bezahlt (je nach Quelle sogar gar nicht), er musste also anderweitig für ein Einkommen sorgen: mit dem Veröffentlichen weiterer botanischer Bücher. Dies spielte sich während der französischen Revolution ab, und während anderswo in der Stadt Köpfe abgeschlagen wurden, erhielt Lamarck eine Anstellung und Professur am neugegründeten naturhistorischen Museum - zuständig nun für Insekten und Würmer, aber bevor man sich in dieser Zeit gegen so eine Anweisung von oben wehrt, lernt ein Botaniker doch lieber etwas neues über Tiere.
Bekannt ist Lamarck jedoch bis heute für seine um 1800 entwickelte Evolutionstheorie. Denn während der Gedanke der Evolution, also der Bildung neuer Arten aus älteren, schon längere Zeit in der frühen Naturwissenschaft herumgeisterte [1], fehlte immer noch ein brauchbarer Mechanismus, der dies bewerkstelligen sollte. Nach Ansicht Lamarcks war dies ein allen Organismen innewohnender Drang, sich von einer einfachen Urform zu einer besseren, komplexeren Form hin zu entwickeln.
Das bekannteste Bild, das die Lamarcksche Evolution beschreibt, nimmt die Giraffe zum Beispiel. Warum haben Giraffen so lange Hälse? Weil zunächst Giraffen ihre noch kurzen Hälse ihr ganzes Leben über langgestreckt haben, um die saftigen Blätter ganz oben in den Bäumen zu erreichen, und diese so verlängerten Hälse an ihre Nachkommen vererbten. Nach mehreren Generationen hatte man dann Giraffen mit langen Hälsen. Problematisch wurde für den Lamarckismus, dass Darwin 50 Jahre später auch eine Idee für einen evolutionären Mechanismus hatte, und durch die natürliche Selektion ließen sich nicht nur unzählige Daten aus Fossilien und rezenten Arten erklären, sondern auch die langen Hälse der Giraffen: Es hatte mit den saftigen Blättern ganz oben in den Bäumen zu tun, da lag Lamarck noch richtig. In der Population von Giraffen gab es unterschiedliche Halslängen (die Variation), und wenn nur die Giraffen mit den längsten Hälsen die saftigen Blätter erreichten, dann hatten sie auch mehr Nachkommen, die die langen Hälse erbten.


Wenn es in den Medien in den letzten Monaten um Epigenetik geht, dann wird oft der Lamarckismus heraufbeschworen. Was ist Epigenetik?

Eine genaue Definition von Epigenetik steht noch aus, ganz allgemein versteht man darunter aber vererbbare Eigenschaften, die nicht in der Sequenz der DNA kodiert sind (das wäre die Genetik). Eine epigenetische Vererbung wäre es beispielsweise, wenn die Expressionsstärke eines Gens vererbt wird (in den Extremen also, ob ein Gen an- oder ausgeschaltet ist). Wie könnte so eine Information weitergegeben werden, wenn sie nicht in Form einer DNA-Sequenz vererbt wird? Von den verschiedenen bisher gezeigten Möglichkeiten will ich zwei hier kurz beschreiben: Ein Gen besteht nicht nur aus der Sequenz, die später in ein Protein übersetzt wird. Vor diesem Bereich liegt ein Abschnitt DNA, der sozusagen als (Dimm-)Schalter die Menge an hergestelltem Protein einstellt, indem regulatorische Proteine daran binden - der Promotor. Durch Anfügen von Methylgruppen an Cytosine (eine der vier Basen der DNA) können Promotoren stillgelegt werden. Dies ist keine Änderung der DNA-Sequenz, die Cytosine sitzen immer noch an ihrem Platz im Promotor. Die Methylgruppe ist jedoch kovalent an das Cytosin gebunden, wird also auf dem üblichen Weg mit dem Cytosin an die Nachkommen vererbt. In den Nachkommen wird dieses Gen darum auch stillgelegt sein.
Beim zweiten epigenetischen Mechanismus ist keine Veränderung von Basen nötig. Im Zellkern schwimmt die DNA nicht nackt herum, es sind vielmehr zahlreiche strukturelle Proteine an sie gebunden. Sehr wichtig sind hier die Histone, die in kleinen kugelförmigen Komplexen (Nukleosomen genannt) mit DNA umwickelt sind [2]. Dieses Aufwickeln der DNA ist nötig, um mehrere Meter davon in einem Zellkern mit wenigen Mikrometern Durchmesser unterzukriegen. Nun gibt es mehrere Kondensationsstufen, die stärkste davon die bekannten Metaphasechromosomen. Die Expression von Genen ist in einem so kondensierten Zustand aber nicht mehr möglich.

Die Regulation dieser Kondensation erfolgt über Modifikation der Histone; Anfügen von Methylgruppen erhöht beispielsweise den Kondensationsgrad, während eine angehängte Acetylgruppe ihn verringert [3]. Es ist für die Zelle dadurch möglich, die Expression von Genen in einem relativ kleinen Bereich eines Chromosoms zu regulieren.

In den letzten Jahren wurden nun zahlreiche Hinweise für eine epigenetische Vererbung von "Eigenschaften" gefunden, die sich ein Organismus während seines Lebens aneignet. Die Gedächtnisleistungen von Mäusen im oben verlinkten Heise Artikel sind ein Beispiel dafür, aber auch erhöhte Rekombinationsraten von Arabidopsis-Pflanzen nach UV-Bestrahlung ihrer Eltern fallen darunter. Ganz oberflächlich kann man verstehen, warum manche Leute bei der Vererbung von angeeigneten Merkmalen an Lamarck denken, oder warum bei der Diskussion von Epigenetik in den Medien oft Lamarckismus eingeworfen wird. Es gibt aber mehrere Gründe, warum man diese beiden Begriffe nicht gleichsetzen kann!

  • Während bei allen aktuell beschriebenen Forschungen ein äußerer Einfluss das vererbte Merkmal in den Organismen erzeugte, wehrte sich Lamarck vehement gegen solche Umwelteinflüsse auf die Vererbung. Seiner Ansicht nach wohnte schließlich jedem Organismus eine Triebkraft inne, die ihn zum komplexer evolvieren zwang.
  • Nach Lamarck akkumulieren sich solche erworbenen Merkmale in einer Population, weil sie nicht verloren gehen können. Epigenetik ist aber ein sehr dynamischer und instabiler Prozess, Effekte wie die im Heise Artikel beschriebenen gehen nach mehreren Generationen verloren.
  • Epigenetik ruht immer noch auf einer genetischen Basis. Die epigenetischen Modifikationen werden von Proteinen erzeugt, die ganz herkömmlich im Genom kodiert sind. Epigenetisch vererbte Merkmale unterliegen auch den evolutionären Kräften wie Selektion und Genetic Drift. Also Darwin WIN, Lamarck FAIL.
Was ich jetzt nicht ganz verstehe: Wieso stellt Autor Ben Schwan seinen Artikel so auf, dass der Eindruck beim unbedarften Leser entsteht, aktuelle Forschungen zeigen Probleme mit Darwins Evolutionstheorie auf, die sich durch die unterdrückte Idee des Underdog Lamarck erklären ließen? Und wieso fällt im gesamten Artikel der Begriff Epigenetik nicht einmal, obwohl sie in einem Artikel des Schwesterprodukts Technology Review (von dem der Heise Artikel abgeschrieben wurde) ausführlich diskutiert wurde? Da der Text für Heise online-Verhältnisse relativ lang geraten ist, sicher nicht aus Platzgründen.

Witziger Punkt nebenbei: In Technology Review wird auch über eine zweite, ähnliche Studie bei Mäusen berichtet, bei der schlechte Mütter Nachkommen hatten, die auch schlechte Eltern waren. Davon bleibt im Heise Artikel nur noch die Möglichkeit, "dass beispielsweise die Auswirkungen einer frühen Kindesmisshandlung die Generationen überspringen können [...]."

Achja, und beide Daumen hoch für die vielen Kommentatoren zu dem Artikel, die nicht nur die Qualität des Artikels kritisieren, sondern auch die unvermeidlichen Kreationisten in ihre Schranken weisen.


[1] Beispielsweise hat Darwins Großvater Erasmus Darwin darüber ein schönes Gedicht verfasst.
[2] Histonproteine sind positiv geladen, DNA negativ.
[3] Ganz so einfach ist das nicht. Der Effekt ist unter anderem abhängig von dem veränderten Histon, der Aminosäure, die verändert wird, und eben der Art der angefügten Gruppe. In Anlehnung an den genetischen Code wurde diese Regulation als Histon-Code bezeichnet.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Guten Tag,

vielen Dank für diese schöne Rezension.

Anonym hat gesagt…

Hallo,
da ich gerade meine Facharbeit über Lamarck & die Epigenetik schreibe, bin ich bei meiner Recherche auf Ihren Artikel, bzw. auf Ihre Rezension gestoßen und möchte dazu nun auch einen Kommentar abgeben:
Sicherlich stimme ich Ihnen in mehreren Punkten zu. Viel zu viele Artikel in Zeitschriften propagieren, dass Lamarck nun doch Recht gehabt hatte und Darwin Fehler in seinen Überlegungen begangen hat. Das ist natürlich so nicht ganz richtig! Aber festzuhalten ist, dass beide die Forschung um einige Schritte weitergebracht haben. Die Problematik liegt vielmehr darin, dass es Leute wie Sie gibt, die umbedingt einen Sieger und einen Verlierer in der Diskussion finden wollen. Da muss ich Sie leider enttäuschen!Kein Wissenschaftler, der so viel geleistet hat, wie Lamarck darf als Verlierer bezeichnet werden. Und schließlich ist es nachgewiesen worden, dass sich Darwin unter anderem an Lamarck selbst orientiert hat! Natürlich ist es nun falsch zu sagen, dass Lamarck schon die Epigenetik im Kopf hatte und etwas von den damit einhergehenden Mechanismen vorausahnte, aber die Annahme, dass antrainierte Fähigkeiten sich so auf das Epigenom auswirken können, dass diese Veränderung auf weitere Generationen vererbt wird, ist der Theorie Lamarcks nicht sonderlich unnähnlich. (weitere Details bezüglich Prozesse in der Epigenetik, wie gesagt, ausgenommen)
Abschließend möchte ich Sie bitten, ein wenig objektiver zu sein, wenn Sie über einen wissenschaftlichen Artikel urteilen.
Mit freundlichen Grüßen

Anonym hat gesagt…

Der vorangegangenen Kritik an Ihrer Ausführung möchte ich mich anschliessen. Ich sehe auch nicht, warum man derartigen Unstimmigkeiten solche Aufmerksamkeit widmen sollte. Wir wissen doch gut, aufgrund welcher Idee der Lamarckismus zum Vergleich herangezogen wurde.